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Positionspapier

Erhalt der deutschen Stromgebotszone

22. Juli 2024

REALITÄTSCHECK FÜR GEBOTSZONEN: DIE ENERGIEWENDE BRAUCHT EIN STABILES FUNDAMENT

Die Transformation von einem zentralisierten fossilen zu einem dezentralen erneuerbaren Energiesystem stellt den Strommarkt physikalisch und finanziell vor Herausforderungen, die gelöst werden müssen. Dabei stehen theoretische Rechenmodelle der praktischen Alltagsumsetzung gegenüber: Rechenmodelle, die die Effekte einer Stromgebotszonenteilung analysieren, gehen davon aus, dass Anpassungen genau dann realisiert werden, wenn sie benötigt werden. Planungs- und Umsetzungszeiten verhindern das jedoch in der realen Wirtschaftswelt.

Die Wirtschaftsverbände warnen gemeinsam vor der Aufteilung der einheitlichen deutschen Stromgebotszone: Die negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft sind nicht abzusehen und überlagern etwaige theoretische Vorteile. Es gibt bessere Möglichkeiten, um die Energiewende voranzutreiben, gleichwertige Lebensverhältnisse zu fördern und hochwertige Beschäftigung sicherzustellen.

Der europäische Strommarkt

Der europäische Strommarkt baut auf einem stabilen Fundament auf: dem Handel in sogenannten Stromgebotszonen. Innerhalb dieser einheitlichen Gebotszonen gelten für alle Erzeuger und Verbraucher die gleichen Großhandelspreise. Für das gesamte Bundesgebiet gilt eine einheitliche Stromgebotszone. Mit dieser Grundsatzentscheidung leistet der Strommarkt auch seinen Beitrag zur Sicherung guter Arbeitsbedingungen und zur Wahrung der Wirtschaftseinheit.

Andere Märkte, wie etwa in den USA, wo häufig lokale Preise an einzelnen Netzknoten berechnet werden, funktionieren anders. Hier fokussiert man auch aus historischer Erfahrung auf die Effizienz des physischen Dispatch. In Europa liegt der Fokus auf der Liquidität der Langfristmärkte. Diese grundsätzlich unterschiedlichen Herangehensweisen lassen sich nicht ohne weiteres vermischen. Und so ist auch richtigerweise die kürzlich beschlossene EU-Strommarktreform ein klares Bekenntnis für die zonale Organisation der europäischen Strommärkte in verschiedenen Gebotszonen und gegen die Einführung eines nodalen Preissystems mit zentralem Dispatch. Mit diesem Schritt stärkt die Europäische Kommission auch die Langfristmärkte in Europa.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft ist Planbarkeit: Erzeuger müssen nicht nur wissen, was Strom morgen kostet, sondern eine belastbare Erwartung für den Strompreis für mehrere Jahre haben. Das gilt für Industrieunternehmen genauso wie für Privatkunden, die von ihren Versorgern stabile Tarife erwarten. Um diese Planbarkeit herzustellen, gibt es die Möglichkeit, Strommengen zu einem vereinbarten Termin zu handeln. Dieser langfristige Handel erlaubt ein anspruchsvolles Risikomanagement, die Absicherung von Flexibilitäten oder Kreditrisiken aus dem bilateralen Handel. Demgegenüber steht der kurzfristige Einkauf von Strom am so genannten Spotmarkt. Der hochliquide Terminmarkt in Deutschland war einer der Gründe, warum das Land die Energiepreiskrise 2022 vergleichsweise gut überstanden hat. Unternehmen, die sich nicht langfristig abgesichert hatten, mussten die stark schwankenden Strompreise am Spotmarkt bezahlen. 2018 wurde die deutsch-österreichische Stromgebotszone getrennt. Sowohl Österreich als auch die skandinavischen Länder sichern sich heute über den stabilen Terminmarkthandel in Deutschland langfristig ab. Ein funktionierender Terminmarkthandel hierzulande ist damit auch für den europäischen Kontext zentral.

Herausforderungen sind unbestritten

Während Erzeuger und Verbraucher Planungssicherheit und damit einen stabilen, einheitlichen Terminhandel brauchen, stellt die räumliche Distanz zwischen Verbrauchern und Erzeugern das Netz physisch vor Herausforderungen. In Deutschland liegt ein Großteil der Erneuerbaren Erzeugung im Norden und Osten des Landes, während sich die industriellen Zentren im Süden und Westen befinden. Strom, der dezentral und klimaneutral erzeugt wird, muss also über weite Strecken transportiert werden. Dafür ist ein gut ausgebautes Übertragungsnetz nötig. Aber nicht in jeder Stunde und nicht zu jeder Tageszeit reicht die installierte Kapazität für diesen Ausgleich über weite Strecken aus. Teilweise muss überschüssige Erzeugung abgeregelt werden. Folglich werden an anderen Orten Kraftwerke hochgefahren, um Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht zu halten. Dieser Vorgang heißt Redispatch. Die EU gibt vor, dass Stromgebotszonen langfristig keine strukturellen Engpässe aufweisen dürfen. Deutschland hat 2019 einen Aktionsplan vorgelegt, der grenzüberschreitende Stromleitungen stärker für den Handel öffnet. Diesen zeitlichen Aktionsplan zur Erreichung von 70% der Austauschkapazität mit Ausland hält die Bundesrepublik derzeit ein.

DIE DEBATTE BRAUCHT EINEN REALITÄTSCHECK

Reale Abwanderung statt Ansiedlung

Es wird die Erwartung geäußert, dass eine Spaltung der deutschen Stromgebotszone mit zusätzlichen Ansiedlungen von Industriebetrieben in Zonen mit dann vermeintlich niedrigeren Strompreisen einherginge. Gleichzeitig wird betont, dass Preisunterschiede auf das Jahr gesehen zwischen den neu geschaffenen Gebotszonen nicht sehr hoch ausfallen würden. Diese Verheißung führt gleich doppelt in die Irre: Strompreise in Deutschland stellen im internationalen Vergleich schon jetzt einen Standortnachteil dar. Eine Stromgebotszonenteilung ließe gerade im industriestarken Süd- und Westdeutschland die Strompreise steigen. Dies würde allerdings nicht dazu führen, dass Industrieunternehmen eine Standortentscheidung für eine Neuansiedlung bzw. Verlagerung innerhalb Deutschlands treffen. Die meisten bestehenden Produktionsstandorte, mit ihren Netzwerken aus verschiedenen Unternehmen und etablierten Wertschöpfungsketten, lassen sich nicht verlagern. Preisdifferenzen innerhalb Deutschlands erhöhen den Standortnachteil insgesamt, auch weil aus Sicht der Wirtschaft das regulatorische Risiko weiterer Stromgebotszonenteilung wächst. Durch diese Unsicherheit droht ein massiver Verlust an industrieller Wertschöpfung und guten Beschäftigungsverhältnissen am Standort Deutschland.

Paradoxe Situation für Erneuerbare

Hinzu kommen verstärkende negative Effekte auf Erneuerbare Erzeuger: An sonnigen oder windreichen Tagen mit einem Überangebot an grünem Strom würden die Strompreise in Zonen mit hohem Anteil Erneuerbarer Energien drastisch und sprunghaft fallen. Was zunächst wie ein Vorteil für Verbraucher aussieht, wäre allerdings ein Problem: Zum einen würden die Marktwerte der Erneuerbaren Energien deutlich gesenkt, was zu einem höheren finanziellen Absicherungsbedarf führen würde. Zum anderen stiegen in Gebieten mit geringeren Erneuerbaren Energiemengen die Strompreise deutlich an. Auch das wäre für Verbraucher äußerst negativ.

Innerhalb einer verkleinerten Stromgebotszone finden deutlich stärkere Reaktionen auf zusätzliche Erzeuger bzw. Verbraucher statt. Das erhöht die Unsicherheit über erwartbare Erlöse bzw. Kosten für die Investoren. Die Folge: Dringend erforderliche Investitionen fallen geringer aus, der Ausbau der Erneuerbaren wird gehemmt.

Grundsätzlich sprechen auch pragmatische Argumente gegen die Aufteilung in Gebotszonen: Die Umsetzung wäre hoch komplex. Eine Teilung in mehrere Gebotszonen kann nicht per Knopfdruck umgesetzt werden, sondern würde mehrere Jahre dauern. Dabei müssten diverse wichtige Fragen beantwortet und die Märkte grundlegend neu geordnet werden. Für Marktteilnehmer wie Energieerzeuger oder die Industrie entsteht damit zunächst vor allem eins: erhebliche Unsicherheit in Zeiten dringend benötigter Transformation.

Wäre vor fünf Jahren eine Stromgebotszonenteilung realisiert worden, wäre dies entlang der Mainlinie geschehen. Die heute angedachte Stromgebotszonenteilung ist dagegen deutlich stärker nördlich vorgesehen. Auch ist nicht zwingend eine Zweiteilung, sondern eine Teilung in bis zu fünf oder mehr Gebotszonen denkbar. Mit der fortschreitenden Ausbaudynamisierung von Erneuerbaren Energien und Netzen werden letztendlich auch bestehende Netzengpässe aufgelöst. Gleichzeitig können sich weitere Engpässe abzeichnen. Damit wird ein einmal durchgeführter Gebotszonenzuschnitt stets infrage gestellt. Anhand der Netzentwicklungspläne und dem Zubau der Erneuerbaren Energien in den neuen Bundesländern müssten in weiteren fünf Jahren womöglich Neuzuschnitte erfolgen. Damit geht für Investitionen Verlässlichkeit verloren.

Marktmachtkonzentration vermeiden

Befürworter einer Aufteilung der Stromgebotszone argumentieren, dass dadurch Angebot und Nachfrage regional ausgeglichen würden. Der scheinbar elegante Weg hätte allerdings deutliche negative Effekte für die Volkswirtschaft, für die Energiewende und für alle Marktteilnehmer inklusive der Verbraucher: Teilt man eine Gebotszone auf, sinkt das Handelsvolumen und mit diesem die Zahl der Akteure. Eine marktbeherrschende Stellung einiger weniger Akteure wird wahrscheinlicher, Verbraucher sind größeren Unsicherheiten ausgesetzt.

Herausforderungen im bestehenden System anpacken

Es ist richtig, dass die aktuellen Herausforderungen im Netz angegangen werden müssen. Doch es wäre zu kurz gesprungen, würde man den Lösungskorridor allein auf die Option der Stromgebotszonenteilung verengen. Wenn wir jetzt riskieren, dass der Ausbau der Erneuerbaren in sich zusammenfällt, die Industrie keine Zukunft mehr sieht und dringende Investitionen verschiebt oder gar das Land verlässt, stehen wir vor weit größeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen.

Die Fokussierung der Diskussion allein auf die Strompreise am kurzfristigen Spotmarkt greift zu kurz. Der Lösungsraum ist deutlich größer und umfasst die gesamte Wertschöpfungskette. So können z.B. lokale Anreize außerhalb des Spotmarktes zur Lösung beitragen. Die Herausforderungen im Netz können nachhaltig nur durch physischen Ausbau gelöst werden: Es braucht mehr Speicher, mehr Elektrolyse, mehr Direktbelieferung von Gewerbe und industriellem Mittelstand sowie eine bessere Nutzung der vorhandenen Netzinfrastruktur. Diese Lösungen sind komplexer, als einen Federstrich auf einer Landkarte zu ziehen, der unkalkulierbare volkswirtschaftliche Risiken in sich birgt, aber sie lösen die Herausforderungen grundsätzlich.

Redispatch kostet Geld; Netzausbau kostet Geld. Aber am Ende schaffen wir einen liquiden Strommarkt in Deutschland, der als Vorbild für die Energiewende dienen kann – im Zusammenspiel mit den verschiedenen erneuerbaren Technologien und den verschiedenen regionalen Gegebenheiten in Deutschland. Mit einem guten Rahmen kann die Realwirtschaft privates Kapital für die ambitionierte Fortsetzung der Energiewende mobilisieren, parallel gute Beschäftigung aufbauen und so mehr Wertschöpfung in Deutschland organisieren. Dafür lohnt es sich, die komplexen Aufgaben anzupacken.

Portraitbild von Dr. Matthias Stark
Ansprechpartner*in

Dr. Matthias Stark
Bundesverband Erneuerbare Energie e.V. (BEE)
Leiter Fachbereich Erneuerbare Energiesysteme


E-Mail an Dr. Matthias Stark schreiben
0151 17123012


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