Der deutsche und der europäische Strommarkt befinden sich im Umbruch. Nicht zuletzt die Energiekrise im vergangenen Jahr hat die systemischen Defizite und die Notwendigkeit von größerer Resilienz im Strommarktdesign aufgezeigt. Gleichzeitig verändert der wachsende Anteil an Erneuerbaren Energien dauerhaft das Wesen der Energiewirtschaft: Dezentrale Energien wie Photovoltaik und Windenergie sorgen für immer größere Zeitfenster mit preisgünstigem Strom, während in Zeiten niedriger Einspeisung im Stromsystem zunehmend flexible und steuerbare Leistung benötigt wird. Sektorenkopplung durch z.B. Elektrifizierung erhöht einerseits den Strombedarf, schafft jedoch zugleich zusätzliche Optionen zur flexiblen Steuerung und Möglichkeiten, um Grünstrom zu „nutzen statt abzuregeln“. Flexibilitäten sind somit ein Grundpfeiler zum Umbau des Stromsystems.
Die Bundesregierung hat die Notwendigkeit dieser grundlegenden Reform zwar erkannt und die Plattform Klimaneutrales Strommarktdesign (PKNS) ins Leben gerufen. Mit der noch für dieses Jahr angekündigten Kraftwerksstrategie würde jedoch den Ergebnissen der Plattform vorgegriffen. Die Kraftwerksstrategie der Bundesregierung soll die Voraussetzungen für einen neuen Kraftwerkspark schaffen, der wasserstofffähige Gaskraftwerke zukünftig als Back-Up einsetzt. Durch das Herauslösen aus dem Prozess zur Entwicklung eines neuen Strommarktdesigns riskiert der Gesetzgeber ein Missverhältnis zwischen Kraftwerksstrategie und den neuen Rahmenbedingungen des zukünftigen Strommarktes. Damit könnten strukturelle Probleme aus dem alten Stromsystem in die Zukunft übertragen werden (z.B. Redispatch), statt von Anfang an ein auf Erneuerbare Energien ausgelegtes System zu schaffen.
Mit dem vorliegenden Thesenpapier formuliert der Bundesverband Erneuerbare Energie e.V. (BEE) Anforderungen an eine Kraftwerksstrategie. Die Anregungen auf Grundlage der Erkenntnisse aus der BEE-Studie zum klimaneutralen Strommarktdesign1 lassen sich in den folgenden Thesen zusammenfassen:
Der BEE empfiehlt, Flexibilitätsoptionen im Energiesystem ganzheitlich zu prüfen. Bereits heute existiert eine Vielzahl an dezentralen Flexibilitätsoptionen jenseits wasserstofffähiger Gaskraftwerke. Die Nutzung bereits vorhandener Potentiale sowie Entwicklung weiterer dezentraler Optionen sollte im Hauptaugenmerk des politischen Handelns liegen. Statt einer Kraftwerksstrategie empfiehlt der BEE eine ganzheitliche Flexibilitätsstrategie im Rahmen der PKNS zu erarbeiten.
Der ambitionierte Zubau von Photovoltaik und Windenergie führt zunehmend zu Volatilitäten in der Stromerzeugung. Demgegenüber muss das Stromsystem ausreichend dezentrale Flexibilitäten bzw. Speicher und weitere Back-Up Leistungen vorhalten, um Versorgungssicherheit zu jeder Stunde zu gewährleisten und Kosten zu senken. Flexible Leistung und Steuerung von Anlagen ebenso wie verbraucherseitige Nachfragesteuerung (Demand-Side Management) werden allerdings im aktuellen Strommarktdesign nicht ausreichend angereizt. Es ist daher richtig, den regulatorischen Rahmen so umzubauen, dass flexible Leistung stärker gefördert wird. Die vorgeschlagene Kraftwerksstrategie greift für diesen Zweck jedoch aus verschiedenen Gründen zu kurz.
Die BEE-Studie für ein klimaneutrales Strommarktdesign zeigt auf, dass ein flexibilisiertes Energiesystem mit 100 Prozent Erneuerbarer Energien nur einen geringen Zubau an konventionell steuerbaren Anlagen benötigt. Gemäß den Szenarioberechnungen des BEE kann der Bedarf an neuen H2-Gaskraftwerken von 9,7 GW im Basisszenario durch sinnvolle Maßnahme im Reformszenario auf 0,1 GW deutlich reduziert werden. Voraussetzung dafür ist eine optimierte Nutzung von weiteren und teils bereits bestehenden Flexibilitäten, welche politisch und ökonomisch angereizt werden. Demgegenüber gehen andere Studien von einem Bedarf zwischen 35 bis 70 GW an zusätzlichen H2-Gaskraftwerken zur Bereitstellung der Residuallast aus. Diese Diskrepanz macht die Unsicherheiten deutlich, mit denen eine nur auf H2 abgestellte Strategie behaftet ist. Im schlimmsten Fall wären mit diesen Überkapazitäten Stranded Assets mit hohen Kosten verbunden.
Die BEE-Studie kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass ein alleiniger Fokus auf H2-Kraftwerke zu extremen Strompreisen führen würde.2 Neben den erhöhten Inputkosten kommt es vor allem aufgrund der sehr geringen Volllaststunden zu deutlich gestiegenen Stromgestehungskosten, welche auch langfristig weit oberhalb der Bioenergie liegt.
Die starke H2-Nutzungskonkurrenz durch andere Sektoren wie z.B. der Industrie verstärkt die Knappheitssignale auf dem Wasserstoffmarkt und könnte zusätzlich preistreibend wirken. Aufgrund der für einen funktionierenden Strommarkt notwendigen Merit-Order, durch die das Strommarktpreis an den Gestehungskostendes zuletzt nachgefragten Kraftwerks gekoppelt ist, würde das Preisniveau in Zeiten eines geringen erneuerbaren Angebots auf dem Strommarkt dauerhaft ansteigen und zu höheren volkswirtschaftlichen Kosten führen. Diese Preisspitzen können durch die Nutzung vorhandener Flexibilitäten und Schaffung neuer Speicher- und Back-Up Leistungen deutlich abgemildert werden.
Sofern Wasserstoff nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen wird, könnte der regulatorische Fokus auf Gaskraftwerke zu einem mittel- bis langfristigem Lock-in von fossilem Erdgas bzw. Treibhausgasemissionen im Stromsektor führen.
Ebenfalls sehr unterschiedlich fallen Schätzungen über die Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff für die deutsche Volkswirtschaft insgesamt und seinem Bedarf aus anderen Sektoren aus. Allein um die Risiken von einem späteren Mangel an grünem Wasserstoff zur Umstellung der Gaskraftwerke von Erdgas auf erneuerbare Brennstoffe gering zu halten, sollte der Neubau von H2-ready-Gaskraftwerken so gering wie möglich gehalten werden.
Statt ausschließlich auf zusätzliche wasserstofffähige, aber mit Erdgas befeuerte Gaskraftwerke zu setzen, empfiehlt der BEE die bereits vorhanden Bioenergie-KWK-Anlagen bzw. die dahinterstehende Produktion biogener Brennstoffe sowie noch offene nachhaltige Biomassepotenziale zu nutzen. Allein der bestehende Biogasanlagenpark kann bei Fortführung der Umrüstung auf eine flexible Fahrweise je nach Grad dieser Überbauung zwischen 18 bis 27 GW gesicherte flexible Leistung bereitstellen. Zusätzliche Leistung stellen Holzheizkraftwerke und andere Bioenergieanlagen bereit. Durch die Überbauung der vorhandenen Biogas-KWK-Anlagen zu Spitzenkraftwerken wäre eine sinnvolle Flexibilisierung der Stromerzeugung aus Biogas möglich, die in Zeiten niedriger erneuerbarer volatiler Erzeugung einspeisen könnte. Hinzu kommen neue Biogas- und Biomethan-BHKW sowie Holzheizkraftwerke, die zusätzlich den Bedarf in der Wärmeversorgung abdecken. Die daran angeschlossenen Wärmenetze können im Übrigen weitere Flexibilität bereitstellen, weil Strom in Zeiten hohen Wind- und Solarstromaufkommens in Form von Wärme zwischengespeichert wird, was den Strombedarf in Zeiten hohen Wärmebedarfs verringert. Entsprechend weniger Gaskraftwerke müssten neu errichtet werden, um die Residuallast in diesen Stunden zu decken. Die Flexibilisierung der Stromerzeugung aus Biogas- und Biomethan-BHKW kann durch eine Weiterentwicklung der Vergütungsstruktur im EEG, z.B. der Flexibilitätsprämie, erreicht werden (für weitere Details siehe HBB-Vorschläge).
Neben der Bioenergie existieren zahlreiche weitere Möglichkeiten, im Stromsystem flexible Leistung zu ermöglichen. Im Bereich der Speicher ist eine wirkungsvolle Maßnahme die Absenkung der Stromnebenkosten von Stromspeichern. Bivalente Speicher können unter Voraussetzungen systemdienlicher Rückeinspeisung helfen, Lastspitzen zu decken und Stromnetze zu entlasten. Diese Potentiale erhöhen sich mit zunehmender Sektorkopplung durch die voranschreitende Elektrifizierung von Wärme, Industrie und Verkehr. Der Gesetzgeber sollte Speicher, die Strommarkt- bzw. netzdienliches Verhalten vereinfachen (also z.B. auch die Ein- und Ausspeicherung von Windstrom), bei Haushalten und Unternehmen anreizen. Die Potentiale in der Flexibilisierung durch Verbraucherverhalten („Demand-Side-Management“) gilt es durch eine intelligente Fahrweise zu bündeln. Kleine, netzdienliche Elektrolyse können erheblich zur Netzstabilität und zur Senkung von Netzkosten beitragen3 und den Bedarf an Großkraftwerke mindern. Ein ausreichender Netzausbau bleibt notwendig, um z.B. Flexibilitäten durch netzseitige Lastverschiebungen zu ermöglichen.
Auch die stetig verfügbare, planbare und flexibel steuerbare Wasserkraft kann einen wichtigen Beitrag zur Flexibilisierung der Erzeugerseite in einem neuen Strommarktdesign leisten. Im Zuge der Automatisierung und Digitalisierung der Netze werden die dezentralen Wasserkraftanlagen für mehr Flexibilität sorgen und sind insbesondere auf der Verteilnetzebene netzdienlich und kostensenkend einsetzbar. Die Potenziale der Wasserkraft sind daher bei der Erarbeitung einer Kraftwerksstrategie zu berücksichtigen. Deren Vergütung im EEG muss daher nicht nur an die aktuelle Kostenentwicklungssituation angepasst werden, sondern auch eine angemessene Vergütung der Netzdienstleistungen und Anreize für die Bereitstellung von mehr Flexibilität beinhalten.
In Abhängigkeit von der Förderrate und Temperatur kann auch Thermalwasser sowohl zur Erzeugung von Wärme als auch Strom genutzt werden. Für die Stromerzeugung sind Temperaturen von über 120°C erforderlich. Geothermie-Stromkraftwerke haben nicht nur eine netzstabilisierende Wirkung, sondern geben überdies regelmäßig den Anstoß für die Realisierung geothermischer Wärmeprojekte, da eine Wärmeauskopplung technisch einfach umgesetzt werden kann. Zusammengenommen beläuft sich die installierte elektrische Leistung gegenwärtig auf 46 MW. Die Bruttostromerzeugung lag in 2020 bei 250 Mio. kWh. Durch den signifikanten Anstieg der Aufsuchungsgenehmigungen ist davon auszugehen, dass zukünftig deutlich mehr Strom mittels Geothermie bereitgestellt werden wird.
Angesichts des massiven Ausbaus von Wind und PV häufen sich zukünftig Zeitfenster, in denen Stromangebot die Nachfrage übersteigt und als Resultat die Strompreise gegen null oder darunter fallen. In diesen Zeiträumen erhalten die Anlagenbetreiber nach §51 EEG keine Vergütung, was die betriebswirtschaftliche Grundlage und somit den erneuerbaren Ausbau gefährdet. Zusätzlich führen diese niedrigen Strompreise zu fallenden Marktwerten von Wind und PV-Anlagen, entziehen also den Anlagenbetreibern die betriebswirtschaftliche Grundlage auch im Weiterbetrieb ohne Förderung. Vor diesem Hintergrund muss das Förderregime so weiterentwickelt werden, dass die intelligente Fahrweise von allen Erneuerbaren-Energien-Anlagen in höherpreisigen Zeitfenstern systematisch angereizt wird.
Der BEE schlägt diesbezüglich die Umstellung der aktuellen Zeitförderung auf eine Mengenförderung vor, wodurch negative Strompreise verhindert werden, und die es den Erneuerbaren Energien ermöglicht, ihre Betriebswirtschaftlichkeit zu sichern und somit die finanziellen Anreize zum Ausbau beibehält.
1 BEE-Studie “Neues Strommarktdesign”, https://www.klimaneutrales-stromsystem.de/pdf/Strommarktdesignstudie_BEE_final_Stand_14_12_2021.pdf. Die Kurzversion der Studie ist hier zu finden. https://www.klimaneutrales-stromsystem.de/pdf/20211213_BEE_Kurzversion_der_Studie_Neues_Strommarktdesign.pdf.
2 Kurzfassung der Studie Neues Strommarktdesign, S.9 https://klimaneutrales-stromsystem.de/pdf/20211213_BEE_Kurzversion_der_Studie_Neues_Strommarktdesign.pdf
3 Siehe Green Planet Studie “Netzdienliche Wasserstofferzeugung” https://green-planet-energy.de/fileadmin/docs-pe/sonstiges/2022-02-22_RLI-Studie_Netzdienliche_Wasserstofferzeugung_final.pdf.
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